Mobilität in Gent: Weniger Autos, mehr Lebensqualität

Innerhalb eines Wochenendes eine Stadt auf den Kopf stellen: Gent hat's geschafft. Dank einer autofreien Innenstadt ist mehr Platz für Mensch und Natur.

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Wie wäre es, wenn du deine Stadt einmal ganz neu erleben könntest? Sie mit all deinen Sinnen anders wahrnehmen und sogar in Ruhe genießen könntest. Keine stinkenden Abgase, keine Autos weit und breit: Was schon sehr nach Utopie klingt, hat die belgische Stadt Gent möglich gemacht.

Geregelter Verkehr durch Zirkulationsplan

Was einer Vorbereitung von etwa zwei Jahren bedurfte, wurde innerhalb eines Wochenendes im Jahr 2017 umgesetzt. Durch neue Markierungen, Schilder und Begrenzungspoller wurde die Genter Innenstadt innerhalb kürzester Zeit zur größten autofreien Zone Europas. Seitdem ist diese nach einem Zirkulationsplan aufgebaut. Das bedeutet, dass das autofreie Zentrum von sechs Zonen umgeben ist. Um in eine andere Zone zu gelangen, muss man die Ringstraße außerhalb der Stadt nutzen. Direkte Fahrten zwischen den Zonen sind nur für Busse, Taxen und Einsatzfahrzeuge möglich. Das Verbot des Transits wurde aufgrund des vorherigen starken Durchgangsverkehrs in der nicht dafür ausgelegten Innenstadt eingeführt – nun wurde dieser auf die Ringstraße verlegt.

Veränderung für mehr Lebensqualität

Ziele der Umstellung waren nicht nur eine höhere Lebensqualität der Einwohner*innen, sondern auch die Sicherheit, Zugänglichkeit zum Innenstadtbereich und der Umweltschutz – vor allem die Verbesserung der Luftqualität. Die Menschen ziehen mit, aber so ganz ohne Regeln geht es trotzdem nicht: In den sechs Zonen in der Innenstadt gilt meist Tempo 30. Übeltäter*innen werden konsequent bestraft, um das Zentrum autofrei zu halten.

Ein holpriger Start 

Begeistert waren nicht alle über die ambitionierten Pläne. Der stellvertretende Bürgermeister und Verkehrsminister der Stadt Gent Filip Watteeuw berichtet in einem Interview von starken Anfeindungen, die ihn zwischenzeitlich Sicherheitsvorkehrungen beim Verlassen des Hauses treffen ließen. Vor allem Händler*innen im Kern der Innenstadt waren skeptisch – würden noch genug Kund*innen kaufen, wenn die Läden nicht mehr mit dem Auto erreichbar wären? Wie sollten sie die Lieferung ihrer Waren koordinieren? 

Doch obwohl es am Anfang auch Proteste gab, ist der Großteil der Bürger*innen mittlerweile sehr zufrieden und stolz auf das, was die eigene Stadt geschafft hat.

Ziele in NRW

Das Bundesland will bis 2045 klimaneutral werden. Dafür wurden bereits unterschiedliche Projekte gestartet und ausprobiert. Unter anderem wie man nordrheinwestfälische Innenstädte ebenfalls von Autos befreien kann, zum Beispiel in Dortmund, Münster oder Aachen. Diese stießen aber immer wieder auf große Kritik. In Bielefeld scheiterte die Mission, die Altstadt autofrei zu halten am großen Protest der Bürger*innen. Sie sahen zu viele Herausforderungen in der Logistik, kritisierten den schlecht ausgebauten Nahverkehr und gaben zu bedenken, dass bestimmte Menschen ausgeschlossen werden könnten, die auf ihr Auto angewiesen sind, beispielsweise Familien oder Kranke.

Verbindliche Regeln zur Einreise

Um beispielsweise mit einem deutschen Kfz-Kennzeichen nach Gent einzureisen, ist eine Online-Anmeldung erforderlich. In den Umweltzonen gelten strikte Bedingungen, die von der Euronorm und dem Kraftstofftyp des Fahrzeugs abhängen. Diesel- und Benzinwagen dürfen die Zonen nicht passieren. Der Lieferverkehr in Gent ist ausschließlich bis 11 Uhr erlaubt. Das hat einen entscheidenden Vorteil für die Bewohner*innen: Sie werden früher beliefert als anderswo. Gleichzeitig wird der stadtinterne Transport oftmals per Lastenrad durchgeführt. So sind beispielsweise Briefträger*innen auf E-Bikes ein täglicher Anblick.

Rückblick

Vollgestopfte Straßen sind nicht erst seit gestern ein Problem. Schon in den 1980er-Jahren wurde der Verkehr durch Abgase, Stau, Lärm und zu wenigen Parkplätzen stark beeinträchtigt. Die Belastung wurde so groß, dass viele Bürger*innen sogar aus der Stadt wegzogen.

Entspanntes Parken dank Leitsystem

Einen wichtigen Teil des Genter Konzepts macht der „Parking Plan“ aus. Parken wird durch ein durchdachtes und umfassendes Leitsystem sowie Videokameras aktiv gesteuert. Zwar wurden oberirdische Parkplätze weitgehend zurückgebaut, dafür wurden außerhalb der Ringstraße Park & Ride-Anlagen sowie Tiefgaragen in der Innenstadt errichtet. Je zentraler man parkt, desto teurer wird es. Um die Bewohner*innen und Geschäftsinhaber*innen miteinzubeziehen, schuf die Stadt zudem Kurzparkzonen und Anwohnerstellplätze. Zusätzlich wird ein kostenloser Park & Ride-Shuttle angeboten sowie Stadtbuslinien, Trams und ein Elektroboot betrieben. Kinder bis 14 Jahre dürfen den Nahverkehr, der stetig weiter ausgebaut wird, kostenlos nutzen.

Anreise

Gent ist in jeder Hinsicht eine vielseitige Stadt – auch was die Erreichbarkeit angeht. Zu den zwei großen Bahnhöfen Gent-Sint-Pieters und Gent-Dampoort gibt es aus den meisten belgischen Städten Zugverbindungen. Von dort aus bringen Straßenbahnen und Busse die Menschen in die Innenstadt oder die Außenbezirke. Dank der flämischen Verkehrsgesellschaft De Lijn ist Gent sehr gut vernetzt. 

Fun Fact: Am Bahnhof Gent-Sint-Pieters gibt es eine digitale 3D-Informationsstelle für Tourist*innen. Eine Übersicht über alle Linien findest du aber auch hier.

Gent als Fahrradstadt

Der wichtigste Baustein des Genter Konzepts aber ist das Fahrrad. Um den wegfallenden Autoverkehr ausgleichen zu können, wurde die Radinfrastruktur massiv ausgebaut. Dafür wurde in Passagen, Brücken, Schnellstraßen sowie in ein Parksystem für Radfahrende investiert. Nach dem Prinzip „Living Streets“ wurde mehr Platz für Menschen geschaffen. Die Bewohner*innen verwandelten die Straßen zwischenzeitlich in einen Raum für Begegnungen, Straßenfeste, Spielstraßen oder begrünten diese.

Gemischte Ergebnisse

Doch nicht alles kann immer rund laufen. Was hat also nicht funktioniert? Etwa zwei Jahre setzte die Stadt im Viertelstundentakt kleine Elektrobusse mit einer Geschwindigkeit von 10 km/h ein. Diese fuhren im Hop-On Hop-Off-Modus durch die Innenstadt und waren kostenlos. Da das Angebot aber deutlich seltener als erhofft wahrgenommen wurde, wurde es aufgrund zu hoher Ausgaben wieder eingestellt.

Zahlen und Fakten

  • 145 Millionen Euro – so viel Geld ist für das Großprojekt eingeplant
  • 25.000 weniger gemeldete Autos
  • Reisezeit und Parkplatzsuche haben sich verkürzt
  • Stadt hat Umbau- und Veränderungsziele für 2030 bereits erreicht

Das Resümee ist trotzdem positiv: Die Besuche aus dem Umland haben sich vermehrt. Die Stadt verzeichnete 35 % weniger Unfälle. Der Autoverkehr sank, während immer mehr Menschen auf das Rad umstiegen. Dabei kam es trotz aller Erwartungen auf der Ringstraße zu weniger Staus. Auch die Teilnahme am öffentlichen Nahverkehr sowie die Anzahl der Fußgänger*innen steigerte sich. Dadurch konnte die Luftqualität um 25 % verbessert werden.

Wie sieht's sonst in Europa aus?

Barcelona

Mit Superblocks, so genannten Superilles (Superinseln), schuf die spanische Stadt mehr Raum für Fußgänger*innen und die Natur.

Oslo

Die norwegische Hauptstadt hat alle Parkplätze in der Innenstadt abgeschafft.

Kopenhagen

Die Stadt, die sich selbst als „weltbeste Fahrradstadt“ bezeichnet, weist Fahrradwege so breit wie Autospuren auf. Ziel der dänischen Hauptstadt bis 2025: CO2-neutral werden und keine Unfallopfer mehr im Straßenverkehr.

Paris

Mehr Radrouten und Leihstation, Tempo 30 für Autos und Beschränkungen auf der Autobahn – die französische Hauptstadt tut einiges, um die Verkehrswende voranzubringen.

Nürnberg

Die bayrische Stadt rühmt sich gerne als „größte Fußgängerzone Europas“. Der Autoverkehr beschränkt sich in der autofreien Altstadt ausschließlich auf Lieferant*innen.